Wein

Ach, Twitter. Diese Plattform begleitet mich nun seit vielen Jahren und zu keinem anderen Social Media Kanal hab ich so eine emotionale Bindung aufgebaut. Ich habe hier viel gelernt, mich oft gewundert, viel diskutiert; darüber hinaus hier auch meinen Ehemann und meine Business Partnerin kennen gelernt. Und wie so viele andere (John Scalzi hat zum Beispiel seine Überlegungen lesenswert dargelegt) bin auch an dem Punkt, an dem ich nicht weiß, ob ich es weiterhin mit meinen ethischen Vorstellungen vereinbaren kann, hier zu sein. 

Es ist ein Fakt, dass Willkür und persönliche Befindlichkeiten Twitter beherrschen. Das Sperren von Drittanbieter-Apps, menschenverachtende Tweets, spontane Alghorithmus-Änderungen – you name it. Wir füttern mit unserer Twitter-Nutzung das Ego eines Narzissten. Das muss nicht sein. Kann ich mich zu 100 Prozent mit Mark Zuckerberg identifizieren, finde ich sämtliche Praktiken von TikTok vertretbar? Nein. Es gibt selten nur schwarz und weiß, aber es gibt eine ethische und moralische Verpflichtung von reflektierten Heavy User:innen, ihr Nutzungsverhalten regelmäßig zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen. Und: Musk sieht Twitter als sein persönliches Sprachrohr, Zuckerberg sieht Facebook immer noch als Unternehmen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. 

Warum bin ich gerne auf Twitter? Weil ich den Kanal für meine Arbeit brauche? Weil ich dort meine Zielgruppe ansprechen kann? Klar, dass nicht alle ihre Accounts stilllegen können/wollen/sollen. Oder bin ich auf Twitter, weil ich gerne meine gute, alte „Bubble“ nicht verlieren möchte. Schaue ich nur noch aus Gewohnheit mehrmals täglich meine Timeline durch, die sowieso schon lange nicht mehr so aussieht, wie ich es gewohnt war? Teils, weil der Alghorithmus sich geändert hat, teils, weil doch einige still geworden sind. Nicht, um auf Mastodon oder anderswo zu posten, sondern um einfach nur noch mitzulesen. (Eine interessante Studie zeigt, dass Journalist:innen zwar auf Twitter bleiben, aber nicht mehr so viel selbst twittern. Ein bezeichnendes Zitat: „I tweet less than I did before, but it’s still the place I’m gonna go when I want some gossip“) Kann man dann wirklich noch davon reden, den Kanal für die Arbeit zu „brauchen“? Oder ist es einfach das Gefühl von Nostalgie und die alte Gewohnheit, die man aus Faulheit nicht ablegen will?

Last but not least: Es gibt momentan keinen business case für Menschen wie uns. Ich würde keinem Kunden momentan empfehlen, mit Twitter zu beginnen.

Das Internet verändert sich, Plattformen kommen und gehen. Twitter ist/war vielen die liebste. Ich verstehe das. Aber aus reiner Nostalgie bleiben? Davon hat man nix, und man unterstützt implizit das aktuelle Management. 

Juno

Ich sag es gleich: Ich stimme mit vielen Punkten, die Michaela genannt hat, komplett überein. Narzisst, Willkür, Verantwortung.

Trotzdem habe ich bislang noch nie überlegt, meinen Twitteraccount stillzulegen und habe das aus aktueller Sicht auch nicht vor.

Das sind meine Gründe:

Moralische Verpflichtung?

Dass Twitter von einer Person übernommen wurde, die in vielfacher Hinsicht absolut fragwürdig drauf ist, braucht nicht diskutiert zu werden. Offen bleibt aber, ob wir deshalb eine moralische Verpflichtung besitzen, etwas, das wir lieben und uns wichtig ist, aus unserem Leben zu streichen. Wenn ich durch mein Büro und meine Wohnung gehe, treffe ich auf viele dieser Zwiespälte. Es gibt Dinge, die kaufe und benutze ich ganz bewusst nicht, weil mir Philosophie, Management, Kultur, Botschaften, Finanzierung, usw. nicht ins Bild passen. Das sind aber meist Dinge, die mir ohnehin nicht so wirklich wichtig sind. Oder die mit der Zeit an Bedeutung verloren haben. Bei all diesen Dingen fällt es mir auch leicht, den Finger zu heben und zu sagen „Ich finde, Leute sollten das nicht tun/nutzen/besitzen“.

Den User:innen eine moralische Verpflichtung aufzuerlegen im Sinne von „Wenn du Twitter nutzt, unterstützt du Musk und das ist falsch!“ finde ich fehl am Platz. Einzelpersonen tragen mit ihrem Verhalten nicht die Verantwortung dafür, was in Konzernen geschieht.

Fehlende Alternative

Aus meiner Sicht MUSS es nicht zwingerderweise Twitter sein. Es muss aber eine Plattform sein, die ähnlich ist. Mastodon hat es versucht aber mir war von Anfang an klar, dass die Massen nicht überlaufen werden. Es ist zu kompliziert. Nicht für die technikaffine Userin, die das mit den Servern gleich kapiert hat. Aber für viele andere. Und damit Angebote für uns lange funktionieren, müssen sie sofort verständlich und einfach nutzbar sein. So sind wir Menschen (leider).

Aufgebaute Basis

Neben den persönlichen Gründen glaube ich auch nicht dran, dass Unternehmen schwuppdiwupp einfach auf eine andere Plattform umziehen können. Manche Accounts bestehen seit vielen Jahren, es haben sich Netzwerke, Gruppen, Abläufe etabliert. Viele in der Branche nutzen Twitter als vollwertiges Arbeits- und Recherchetool. Da würde ein Umzug auf eine gleichwertige Plattform nur funktionieren, wenn so gut wie alle Nutzer:innen gleichzeitig auch umziehen und die neue Plattform von Tag 1 an genauso intensiv pflegen wie Twitter. Ich bin davon überzeugt, dass es Jahre dauert, eine bestehende Basis woanders neu zu installieren.

Emotionale Verbundenheit

Ich musste mir vor ca. 15 Jahren in einer Lehrveranstaltung von Richie Pettauer dieses komische Twitter installieren und einen Account machen. Die erste Hausübung bestand darin, fünf Tweets zu schreiben und ich fand es total seltsam. Seit ca. 10 Jahren ist Twitter nun schon meine liebste Plattform. Ich mag die kurzen Texte, den Wortwitz, die Schnelligkeit, den Sarkasmus. Ich habe bei sogenannten Twittagessen meine ersten beruflichen Kontakte geknüpft und viele meiner engsten Freundschaften sind über Twitter entstanden. Auf meiner Hochzeit waren bestimmt 20 Leute, die ich über Twitter kannte. Bei einer Lehrveranstaltung im Studium fragte der Vortragende „Wer von euch ist auf Twitter?“ und zwei Personen zeigten auf. Eine war ich und die andere Person sitzt mir als Geschäftspartnerin gerade gegenüber. Es soll Leute geben, die haben ihre späteren Partner auf Twitter kennen gelernt und haben nun zwei Kinder.

Also ja, ich hänge emotional dran. Und ich weigere mich (bislang), es herzugeben nur weil ein Typ mit fragwürdigen Entscheidungen sich eingebildet hat, mitzumischen.

Vermutlich muss man auch irgendwann lernen, loszulassen und viele aus meiner früheren Bubble haben sich aus nachvollziehbaren Gründen von der Plattform bereits zurückgezogen. Selbstverständlich spüre ich auch die giftige Dynamik, habe Probleme mit fehlerhaften Funktionen, bin genervt von blauen, gelben, rosa Häkchen und die Minuten, die ich überlege, bevor ich etwas poste, werden auch immer länger. Aber noch bin ich nicht soweit :)